.

BRICS: Wo Biologie berechenbar wird

Das Braunschweig Integrated Centre of Systems Biology (BRICS) revolutioniert seit 2016 die Lebenswissenschaften. Denn hinter der traditionellen Backsteinfassade am Rebenring wird in hochmodernen Laboren internationale Spitzenforschung betrieben. Von der Modellierung des Immunsystems über die Entwicklung neuer Antibiotika bis hin zur Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen – im BRICS wird das bisher Unberechenbare berechenbar gemacht.

„Ein Flugzeug wird heute vollständig und basierend auf bestehendem Wissen im Computer konstruiert und getestet. Und dann fliegt es auch sofort, schließlich hat man zuvor alles Wesentliche exakt berechnet. Ist das bei einem Bakterium nicht auch möglich?“ verdeutlicht Prof. Dr. Dieter Jahn und erklärt: „Genau das ist die Grundidee des BRICS (Öffnet in einem neuen Tab): Wir möchten die Biologie berechenbar machen.“ Doch dieses Vorhaben, so einfach es auch klingen mag, birgt eine Revolution in sich. Denn es verspricht nichts Geringeres als einen Paradigmenwechsel in den Lebenswissenschaften: weg von der reinen Beobachtung und Analyse, hin zur präzisen Vorhersage hochkomplexer biologischer Prozesse.

BRICS-Sprecher Prof. Dr. Dieter Jahn© Privat

Von der Wiese zum Forschungszentrum

„Das BRICS sollte ursprünglich am HZI entstehen“, erinnert sich Jahn. „Aber ich regte an, es ganz zentral auf der Wiese hinter dem Naturhistorischen Museum zu bauen.“ Das Land Niedersachsen wollte das Gelände eigentlich an private Investoren verkaufen. Doch mit Überzeugungskraft und dem richtigen Gespür für Synergien gelang es dem renommierten Mikrobiologen und Biochemiker, der zuvor an der Yale University in den USA geforscht hatte, die entscheidenden Akteure für seine Idee zu gewinnen. Das BRICS entstand und beherbergt seitdem auf rund 3.500 Quadratmetern hochmoderne biotechnologische Labore, die sowohl der Forschung als auch der Ausbildung von Studierenden dienen. Spitzenforschung und exzellente Lehre werden unter einem Dach vereint.

Daran beteiligt sind nicht nur drei der sechs Fakultäten der TU Braunschweig (Öffnet in einem neuen Tab), sondern auch renommierte Partner wie die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (Öffnet in einem neuen Tab) (PTB), die Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (Öffnet in einem neuen Tab) (DSMZ) sowie das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (Öffnet in einem neuen Tab) (HZI). Diese Konstellation schafft einen einzigartigen Nährboden für bahnbrechende Forschung. "Die Region Braunschweig-Wolfsburg hat die höchste Forschungsdichte in Europa", betont Jahn nicht ohne Stolz. „In Zentren wie das BRICS holen wir die Spitzenleute der verschiedenen Einrichtungen, damit sie gemeinsam Forschung betreiben – hochspezialisiert auf ein Thema – und dort Weltklasse werden.“

© Friedemann Steinhausen

Im Herzen der Forschung

Und so pulsiert im BRICS heute das Herz der modernen Systembiologie. Hier wird daran gearbeitet, komplexe biologische Systeme in ihrer Gesamtheit zu verstehen und zu modellieren. „Wir messen ganz genau, was in einer Zelle passiert", erklärt Jahn den Forschungsansatz. „Dann erstellen wir anhand dieser Daten ein Modell im Computer und schauen, ob damit korrekte Vorhersagen getroffen werden können.“ Die auf diese Weise entstehenden Möglichkeiten sind so vielfältig wie vielversprechend: Von der Entwicklung neuer Antibiotika bis hin zur Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen – die Arbeit am BRICS könnte in den kommenden Jahren zu bahnbrechenden Durchbrüchen in der Medizin führen.

Ein Paradebeispiel für die interdisziplinäre Forschung am BRICS ist das NeEDL-Projekt. In sechsjähriger internationaler Zusammenarbeit, unter Beteiligung des Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik (Öffnet in einem neuen Tab) und Institutionen wie dem National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases (Öffnet in einem neuen Tab) in den USA, entwickelten die Forschenden eine KI zur Analyse komplexer genetischer Verbindungen. NeEDL identifiziert versteckte Interaktionen bei Krankheiten wie Alzheimer oder Diabetes. Dank Netzwerkmedizin und Quantencomputing liefert NeEDL nie zuvor gesehene Ergebnisse, die nun für Forschende auf der ganzen Welt zugänglich sind und die Entwicklung verbesserter Therapien vorantreiben könnten.

Spitzentechnologie für Spitzenforschung

Um ihre ambitionierten Ziele zu erreichen, setzen die Forschenden am BRICS auf modernste Technologie. „Wir besitzen eine der größten Abteilungen in Europa, um Metaboliten – also Stoffwechselprodukte –  zu messen. Mit vollautomatisierten Geräten für viele Millionen Euro“, schwärmt Jahn. Doch nicht nur die Ausstattung ist beeindruckend – auch die Herangehensweise der Wissenschaftler sucht ihresgleichen: „Wir kaufen keine Mikroskope, sondern entwickeln sie selbst“, erzählt Jahn stolz. „Mit ihnen können wir dank superhoher Auflösung sogar einzelne Moleküle in einer Zelle beobachten.“

Diese hauseigene Spitzentechnologie ermöglicht es, tiefer als je zuvor in die Geheimnisse des Lebens einzudringen. Doch trotz aller technologischen Fortschritte bleiben noch zahlreiche Herausforderungen. "Bei uns sind die Hindernisse hauptsächlich technologischer Art", erklärt Jahn. "Man kommt beim Messen irgendwann immer an physikalische Grenzen. So können wir beispielsweise noch nicht alle Stoffwechselprodukte erfassen, da fehlen uns noch viele Informationen."

© TU Braunschweig scienceRelations

Der Standort als Schlüssel zum Erfolg

„Die TU Braunschweig ist nicht zu groß, dadurch kennt und schätzt man sich“, erklärt Jahn und verdeutlicht: „Ingenieure tauschen sich mit Naturwissenschaftlern aus und umgekehrt. Wir betreiben hauptsächlich interdisziplinäre Forschung, und das ist die Forschung der Zukunft.“ Diese Interdisziplinarität spiegelt sich auch in der Vielfalt der am BRICS vertretenen Forschungsgruppen wider. Von Bioinformatikern, die Netzwerkanalysen durchführen, bis hin zu Wissenschaftlern, die das Immunsystem modellieren – die Bandbreite der Expertise ist beeindruckend.

„Vom HZI kommen Modellierungs- und Bioinformatik-Spezialisten. Sie modellieren zum Beispiel das Immunsystem und gehen dabei der Frage nach, ob sich berechnen lässt, wie eine Immunantwort im Körper abläuft", erläutert Jahn. Diese Vielfalt an Perspektiven und Methoden ermöglicht es dem BRICS, komplexe biologische Systeme ganzheitlich zu betrachten. Auch die großzügige Ausstattung mit Labor- und Computerarbeitsplätzen fördert nicht nur die Forschung, sondern auch den Austausch zwischen den Disziplinen. Studierende haben so die einzigartige Möglichkeit, an der Schnittstelle verschiedener Fachbereiche zu lernen und zu forschen, was ihnen wertvolle Erfahrungen für ihre zukünftige wissenschaftliche Karriere verschafft.

Optimistisch in die Zukunft

Prof. Jahns Blick in die Zukunft ist von großem Optimismus geprägt: „Wir werden irgendwann fähig sein, zelluläre Prozesse komplett im Computer ablaufen zu lassen“, verspricht der renommierte Experte. Doch sieht er nicht nur wissenschaftliche Durchbrüche als Ziel seiner Arbeit. "Ich möchte hervorragende junge Menschen ausbilden, die diese Forschung auf höchstem Niveau weiterführen und international bestens vernetzt sind", erklärt er seine Motivation. „Und ich will helfen, ein weltweites Netz aufzuspannen, in dem wir alle gemeinsam exzellente Forschung machen. Wir brauchen einfach noch viel mehr menschliche Brücken, gerade in Zeiten wie diesen.“

Mit seiner einzigartigen Kombination aus interdisziplinärer Zusammenarbeit, Spitzentechnologie und visionärem Denken ist das BRICS mehr als nur ein Forschungszentrum. Es ist ein Ort, an dem die Zukunft der Lebenswissenschaften geschrieben wird. Und es ist ein Beweis dafür, was entstehen kann, wenn man den Mut hat, über den Tellerrand zu blicken und Grenzen zu überschreiten – sei es die Grenze zwischen wissenschaftlichen Disziplinen oder die zwischen dem Bekannten und dem noch Unerforschten.

Text: Stephen Dietl, 20. Februar 2025


Erläuterungen und Hinweise