.

Pandemie-Bremse aus Braunschweig

Bei den Bemühungen, die Zahl der Corona-Infektionen unter Kontrolle zu halten, spielen Apps und Software-Lösungen eine große Rolle. Eines der wichtigsten digitalen Werkzeuge zur Beherrschung der Pandemie ist das Kontaktnachverfolgungs-System SORMAS. Erdacht und entwickelt wurde das Tool in der Löwenstadt.

Nigeria, im Jahr 2015: Im Seuchenkontrollzentrum des westafrikanischen Landes greift eine Mitarbeiterin zum Telefon und wählt eine Nummer in Deutschland. Die Frau, die damit betraut wurde, den Ausbruch des gefährlichen Ebolafiebers zu überwachen, das in mehreren Staaten der Region um sich greift, braucht Hilfe. Die Betreuung der vielen Kontaktpersonen stellt sich als zu schwierig, zu kompliziert und zu arbeitsintensiv dar. Wenige Sekunden später klingelt ein Telefon in Stöckheim, im Süden Braunschweigs.

Gérard Krause leitet die Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig und gilt als geistiger Vater des Kontaktnachverfolgungs-Tools SORMAS.© HZI/Verena Meier

Prof. Dr. Gérard Krause erinnert sich an den Anruf vor sechs Jahren, der als Initialzündung für die Entstehung einer Software gelten darf, die wir heute unter dem Namen SORMAS („Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System“) kennen und die im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) zum Einsatz kommt. Der Arzt und Leiter der Forschungsgruppe Epidemiologie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) (Öffnet in einem neuen Tab) zögerte nicht, der Kollegin im bevölkerungsreichsten Land Afrikas seine Unterstützung zuzusagen. „Es entstand die Idee, ein digitales System aufzubauen, das diese ganzen Arbeitsprozesse des Kontaktpersonenmanagements steuert, beschleunigt und auch die Qualität diesbezüglich sichert“, skizziert Krause den Grundgedanken hinter dem Projekt. Schon bald darauf wurde die neue Software in Westafrika nicht nur gegen Ebola, sondern auch im Zusammenhang mit anderen Infektionskrankheiten wie Affenpocken, Masern, Meningokokken und Lassafieber eingesetzt. „Das hat gezeigt, dass SORMAS nicht nur für die Ausbruchsbekämpfung mehrerer Krankheiten nützlich ist, sondern auch, dass es sehr schnell einsetzbar ist“, sagt der Mediziner in der Rückschau.

Einzug in die deutschen Gesundheitsämter

Seit den ersten Bewährungsproben auf dem afrikanischen Kontinent wurde die Open-Source-Plattform kontinuierlich weiterentwickelt. Mit dem Auftreten der Covid-19-Pandemie lag es nahe, SORMAS (Öffnet in einem neuen Tab) auch in Deutschland einzusetzen. „Wir müssen schneller dabei werden, Infektionsketten zu unterbrechen, also dem Virus sozusagen Steine in den Weg zu legen, damit es sich nicht weiter verbreiten kann“, schildert Prof. Dr. Melanie Brinkmann vom HZI eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben, um die Pandemie zu stoppen. Laut der Virologin, die auch einen Lehrstuhl an der TU Braunschweig bekleidet, sei es deshalb besonders wichtig, „bei der Kontaktnachverfolgung schneller und effizienter zu werden.“ Um dieses Ziel zu erreichen, eigne sich eine digitale Lösung wie SORMAS besonders gut, „denn dadurch sind wir deutlich schneller, Wege werden abgekürzt. Menschen können schneller informiert werden, dass sie einen Hochrisiko-Kontakt hatten, und können sich entsprechend verhalten.“

Das SARS-CoV-2-Virus stellt die Gesundheitsämter in Deutschland vor große Herausforderungen. Besonders die Kontaktnachverfolgung ist aufwendig und kompliziert.© Gerd Altmann/Pixabay

Bis heute wurde SORMAS in über 320 Gesundheitsämtern der Republik zur Kontaktnachverfolgung bei Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Erreger installiert – das ist die große Mehrheit der bundesweit rund 400 Gesundheitsämter. Im praktischen Einsatz ist das Tool dort allerdings noch nicht überall. Mitte März berichtete das ARD-Magazin Kontraste, dass von 290 Gesundheitsämtern, die das System bis dahin installiert hatten, gerade mal 90 tatsächlich damit arbeiteten – bei den meisten anderen herrschte noch „Testbetrieb“.

Es gebe mehrere Gründe, die viele Behörden davon abhielten, SORMAS zu nutzen, erklärt der Epidemiologe Krause auf Nachfrage von Besser Smart: „Vielleicht der wichtigste und auch gut nachvollziehbare Grund ist die Arbeitsbelastung, unter der die Gesundheitsämter zögern, eine andere Software einzuführen.“ Zudem hätten manche Ämter „in der ersten Hälfte 2020 hohe Beträge für kommerzielle Software investiert und haben nun Schwierigkeiten, sich für eine kostenlos vom Bundesministerium für Gesundheit bereitgestellte Software zu motivieren.“ Zudem sei SORMAS fortlaufend in Entwicklung und manche Ämter noch nicht vom Mehrwert überzeugt.

Beim Braunschweiger HZI wird Grundlagenforschung mit den drei Themenschwerpunkten „Bakterielle und virale Pathogene“, „Immunantwort und Immunintervention“ sowie „Anti-Infektiva“ betrieben.© HZI

Trotz dieser Vorbehalte ist das Helmholtz-Produkt ein wichtiger Baustein des Projekts SORMAS@Demis (Öffnet in einem neuen Tab), in dem die einzelnen Software-Bausteine SORMAS, Survnet, Demis und das Climedo-Symptomtagebuch miteinander vernetzt sind, um der Pandemie Herr zu werden. Auch in Frankreich, der Schweiz und sogar in einigen asiatischen Ländern wird die Software aus Braunschweig bereits eingesetzt. Krause wundert das gar nicht. „SORMAS reduziert den Arbeitsaufwand, es beschleunigt den Informationsaustausch, es verbessert die Informationsqualität“, sagt der HZI-Wissenschaftler über das Tool. Auch wenn Krause in Sachen Verbreitung gerne schon weiter wäre – tatsächlich hatte die Ministerpräsidentenkonferenz im November 2020 das Ziel festgelegt, schon bis Ende desselben Jahres eine Nutzerrate von 90 Prozent zu erreichen –, ist er doch auch ein wenig stolz auf das in neun Monaten Erreichte: „Erstmalig wurde für alle Gesundheitsämter ein einheitliches digitales Open-Source-System etabliert, das zentral beim Informationstechnikzentrum Bund betrieben wird – das ist eine Premiere, sowohl technisch als auch organisatorisch. Und das trotz aller Widrigkeiten der Pandemie.“

Kooperation mit Braunschweiger IT-Firmen

Krause übernahm im Jahr 2011 die Leitung der Abteilung Epidemiologie am Stöckheimer HZI. Junge Wissenschaftler, die sich für die Braunschweiger Einrichtung entschieden, fänden dort „beste Arbeits- und Forschungsstrukturen vor“, versichert er. Auch von der Lebensqualität an der Oker seien viele Mitarbeiter, die sich trotz anfänglicher Bedenken nicht für München oder Berlin, sondern für Braunschweig entschieden haben, beeindruckt, berichtet Krause aus Erfahrung. Zudem bieten auch die modernen Unternehmen vor Ort offenbar einen großen Mehrwert: Beim SORMAS-Projekt arbeitet das Helmholtz-Zentrum beispielsweise eng mit zwei Braunschweiger IT-Firmen zusammen, der Symeda GmbH (Öffnet in einem neuen Tab) und der Netzlink GmbH (Öffnet in einem neuen Tab). Erstere zeichnet für die Programmierung der Software verantwortlich, während die zweite den Betrieb sicherstellt. Krause bezeichnet die Kooperation als exzellent. „Man kann sagen, dass SORMAS, als eines der wenigen international eingesetzten digitalen Pandemiebekämpfungs-Systeme, seinen Ursprung und den Großteil seiner aktuellen Entwicklung aus Braunschweig heraus genommen hat“, erklärt der 56-Jährige. Er betont, dass das Tool aus der Löwenstadt in verschiedenen internationalen Vergleichsanalysen als das bewährteste und umfänglichste System zur Kontaktnachverfolgung identifiziert worden sei.

Das Braunschweiger IT-Unternehmen Netzlink mit Sitz am IT-Campus Westbahnhof stellt den Betrieb von SORMAS sicher und ist somit Teil des kooperativen Erfolges.© Falk-Martin Drescher / BSM

Mit dem hoffentlich baldigen Ende des weltweiten Coronaviren-Ausbruchs – nicht zuletzt dank der fortschreitenden Impfkampagne – wird die Geschichte von SORMAS, die in Nigeria begann und in Stöckheim so richtig Fahrt aufnahm, keineswegs auserzählt sein. „Die Folgen der Pandemie werden uns noch sehr lange beschäftigen“, ist Gérard Krause überzeugt, „und wir werden realisieren müssen, dass wir uns noch viel besser für künftige Pandemien dieser Art rüsten müssen.“ Dies bedeute auch, „dass das, was wir jetzt hier entwickeln, schulen und einsetzen, nicht nur für diese Pandemie nützlich ist, sondern auch für die Bekämpfung anderer Krankheiten – selbst dann, wenn sie sich nicht ganz so dramatisch entwickeln wie die Covid-19-Pandemie.“

Text: Christoph Matthies, 28.04.2021


Erläuterungen und Hinweise