Digitalisierung im Turbomodus
Die Technische Universität Braunschweig bildet das akademische Zentrum der forschungsstärksten Region Europas. Mit über 20.000 Studierenden in 71 Studiengängen und rund 3.700 Beschäftigten ist die Carolo-Wilhelmina zugleich auch die größte Technische Universität in Norddeutschland. Angesichts der Corona-Pandemie ist eine praxisnahe Bildungseinrichtung dieser Größe vor ganz besondere Herausforderungen gestellt. Wie gestaltete sich der Weg ins erste reine Online-Semester, und welche Chancen ergeben sich durch die Digitalisierung für die Zukunft der universitären Lehre?
„Als im März klar wurde, dass die Pandemie auch Deutschland stark betrifft, haben wir schnell reagiert und überlegt, was das für unsere Lehre bedeutet“, erinnert sich Julius Othmer. Im ersten Schritt wurde eine Website erstellt, auf der Lehrende seitdem alle wichtigen Informationen zu diesem Thema finden. „Anschließend folgte die Erarbeitung einer digitalen Lehrstrategie.“ Othmer leitet seit 2019 das Projekthaus an der TU Braunschweig und ist dort auch für strategische Überlegungen im Bereich Bildung in einer digitalisierten Welt mitverantwortlich.
„Grundsätzlich ist Lehre an der TU immer an Präsenzveranstaltungen gebunden, vom Hörsaal bis ins Labor. Das Wissen wird in den Veranstaltungen vermittelt und anschließend individuell aufgearbeitet“, fasst der Medienwissenschaftler zusammen. „Wir sind dann schnell zu dem Schluss gekommen, dass die traditionelle Aufteilung in 90-Minuten-Slots nach festen Stundenplänen sowohl aus technischen als auch individuellen zeitlichen Gründen nicht 1:1 auf Online übertragbar ist.“ Und so entschied man sich für die Empfehlung des Weges der „asynchronen“ Wissensvermittlung.
Individuell und unabhängig
„Der Vorteil von Online-Lehre ist, dass die Studierenden in ihrem eigenen Tempo lernen können, wann und wo sie wollen“, erklärt Othmer. „Also haben wir den Lehrenden noch vor Semesterbeginn erst einmal Möglichkeiten gezeigt, ihr Material digital aufzuarbeiten, damit sie den Studierenden alles online bereitstellen können – von Dokumenten über vertonte Powerpoint-Präsentationen bis hin zu Video-Vorlesungen.“ Dafür hielten die Medienwissenschaftler und Pädagogen unzählige Fortbildungen ab: „Wir mussten bis zu zwölf Webinare pro Woche machen, die fast immer mit mehr als hundert Teilnehmern ausgebucht waren“, erinnert sich Othmer. „Da haben sich alle regelrecht drauf gestürzt.“
Doch beim asynchronen Lernen sind die Studierenden auf Dauer sehr vereinzelt, weiß Othmer. „Daher haben wir zusammen mit dem Rechenzentrum ein Videokonferenz-System aufgebaut, das einen direkten Austausch sowohl mit den Lehrenden als auch für die Studierenden untereinander ermöglicht.“ Dazu nutzt man aus Gründen des Datenschutzes die OpenSource-Software BigBlueButton; sie kann im Gegensatz zu Skype oder Zoom direkt über die eigenen Server betrieben werden. Und für Großveranstaltungen mit bis zu 1.000 Teilnehmenden steht die Software WebEx zur Verfügung.
Für viele Veranstaltungen gibt es zwar nach wie vor feste Termine, doch die Lehrenden sind nun deutlich flexibler: „In einer Videokonferenz mit 300 Teilnehmenden ist ein sinnvoller Austausch kaum möglich“, erklärt Othmer. „Viele haben ihr Angebot daher aufgefächert in mehrere kürzere Veranstaltungen mit kleineren Gruppen. Das wird individuell ganz unterschiedlich gehandhabt, und die Verantwortung für die Lehre liegt natürlich bei den Fächern. Wir hoffen im Rahmen des für uns Leistbaren dabei zu helfen und vielleicht auch neue Möglichkeiten aufzuzeigen.“ Und auch wenn der Weg ins erste reine Online-Semester der Uni-Geschichte mit viel Arbeit verbunden war, lief der Transfer erstaunlich reibungslos. Bis auf ein paar überlastete Server oder unterbrochene Verbindungen gab es auf technischer Ebene kaum Probleme.
Doch gleichzeitig ist die Umstellung auf digitale Lehre für Lehrende, Studierende und auch die Support-Einrichtungen mehr als nur die Nutzung technischer Tools. Sie bedeutet für alle Beteiligten gleichermaßen einen Prozess des Ausprobierens mit steilen Lernkurven, auch des Scheiterns, und vor allem einen deutlich erhöhten Arbeitseinsatz auf allen Seiten.
Und die nächste Herausforderung wartet bereits: die bevorstehende Prüfungszeit. „Eine Prüfung über Video darf nicht einfacher sein als eine Präsenzprüfung in den vergangenen Semestern. Und wie sind die Abbruchbedingungen, wenn die Internetverbindung hakt?“, so Othmer. Im Fokus stehe nun also die Suche nach digitalen Prüfungssystemen und die praktische Umsetzung: „Wir schauen derzeit ganz intensiv, wie sich das alles fair und transparent rahmen lässt, damit es sowohl leicht zu handhaben als auch konform zur Prüfungsordnung ist.“
Die Chancen nutzen
Eine der vielen Teilnehmerinnen des digitalen Experiments ist Frieda Himstedt: „Zu Anfang war es etwas verwirrend, wie so vieles angesichts von Corona. Aber dann hat sich alles schnell gefügt“, erzählt die Studentin des Master-Studiengangs „Organisation, Governance, Bildung“. Auch sie studiert seit April nur noch online und sieht viel Positives: „Asynchrone Veranstaltungen haben den Vorteil, dass man die Inhalte nutzen kann, wann es einem am besten passt und man die Konzentration dazu hat. Zudem spart es Zeit durch wegfallende Laufwege.“ Auch synchrone Veranstaltungen mittels Videokonferenzen und der Austausch durch Chats würden gut funktionieren. Einziger Wermutstropfen neben dem fehlenden persönlichen Kontakt: „Man kann nicht immer direkt nachfragen“, so Himstedt. Und in Online-Seminaren käme bisher keine so starke Diskussionskultur auf: „Viele Fächer leben aber davon.“
Himstedt engagiert sich auch im AStA, ist Mitglied des Vorstands und somit nah an den Sorgen und Nöten der Studierenden. Grundlegende Kritik gebe es aber kaum, meist beträfe es eher Technisches oder die Internetverbindung: „Manche Studierende besitzen nur ein Smartphone mit mobilen Daten oder einen alten Laptop, haben zuvor die nun geschlossenen PC-Pools an der Uni genutzt“, schildert Himstedt die Problematik. „Angesichts der aktuellen Jobsituation ist es aber noch schwieriger, die Mittel für eigene Anschaffungen aufzubringen.“ Gemeinsam mit der Uni arbeite man daher auf Hochtouren, um Maßnahmen zur Wahrung der Chancengleichheit ins Leben zu rufen.
„Es gibt mit der Online-Lehre und ihren vielfältigen Formen des Lernens große Chancen auch für die Zeit nach Corona“, hofft Himstedt. „Da sollten wir die positiven Aspekte auf jeden Fall mitnehmen.“ So sieht es auch Julius Othmer: „Wir werden natürlich nicht komplett digital bleiben, denn wir sind keine Fernuni. Präsenz ist und bleibt wichtig, besonders im Hinblick auf Labore und Großgeräte“, so der Medienwissenschaftler. Man werde nach der Pandemie aber trotzdem nicht in den Urzustand zurückkehren: „Es wird mit Sicherheit eine breite Diskussion darüber geben, was wir beibehalten, damit die Lehre langfristig noch besser wird.“
Text: Stephen Dietl, 04.06.2020