Produktive Nachbarschaft
Die verbliebenen Produktionsunternehmen in unseren Städten befinden sich oft hinter hohen Zäunen, während ein Großteil schon lange in Industriegebiete umgesiedelt wurde. Dabei bietet urbane Produktion eigentlich zahlreiche Vorteile, sowohl für Unternehmen als auch Einwohner:innen. Das Verbundprojekt Urban Factory II (Öffnet in einem neuen Tab) entwickelt Ansätze, mit denen Städte als Fabrikstandorte ressourceneffizienter werden können – von geteilten Werkskantinen und E-Ladesäulen bis zur öffentlichen Nutzung der Abwärme.
„Der rauchende Schornstein einer Fabrik entspricht oft nicht mehr der Realität, und niemand wünscht die Schwerindustrie zurück in die Nachbarschaften. Es gibt viele produzierende Unternehmen, die absolut kompatibel mit der Stadt sind“, erklärt mir Michael Bucherer. „Wir wollen untersuchen, was die Potenziale und Erfolgsfaktoren urbaner Produktion sind“, so der Architekt und wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Konstruktives Entwerfen, Industrie- und Gesundheitsbau (IKE) der TU Braunschweig. „Potenziale, die Gutes für die Stadt als Wohn- und Arbeitsort bedeuten, aber auch, welche Vorteile sie für die Unternehmen bieten.“ Ein solches Miteinander von Industrie und Wohnen ist jedoch nicht immer einfach. Wie kann man dieses Verhältnis also verbessern?
Zu diesem Zweck geht ein interdisziplinäres Team, bestehend aus 14 Partnern von Hochschulen und Institutionen, unter Leitung der TU Braunschweig im Projekt Urban Factory II in Braunschweiger und Wolfsburger Quartiere: Gemeinsam mit Produktionsunternehmen – von der kleinen Privatbrauerei über ein mittelständisches Unternehmen bis zum großen Logistik- und Automobilkonzern – sowie natürlich den Anwohner:innen werden dabei „Konfliktfelder und Kooperationsmöglichkeiten“ analysiert und durch geeignete Maßnahmen „Innovations- und Effizienzpotenziale“ erschlossen. Indem Produzenten und Nutzer unterschiedlichster Ressourcen sowohl ökonomisch als auch ökologisch sinnvoll verbunden werden, soll die Effizienz des so genannten „Stadt-Fabrik-Systems" gesteigert werden.
Ressourcen neu denken
In diesem Zusammenhang sind jedoch keineswegs nur klassische Ressourcen wie Energie und Rohstoffe gemeint. Vielmehr geht es um eine ganzheitliche Interpretation des Begriffs: „Sich nur auf Energie als Ressource zu fokussieren, greift zu kurz“, erklärt mir Bucherer. Und so habe man im Vorgängerprojekt Urban Factory I weitere relevante Ressourcen definiert: Energie, Stoffe, Raum und Boden, aber auch Abstraktes wie Mobilität, Wissen, Image und Gestalt, Recht und Kultur – und natürlich den Mensch. „Wie zeigt sich ein Unternehmen in der Öffentlichkeit? Und eröffnet ihm dies wiederum Möglichkeiten, andere Potenziale zu erschließen?“, so Bucherer. Hier müsse man viele Faktoren abwägen: Zwar könne ein urbaner Standort teurer sein, dank kurzer Arbeitswege (Mobilität) und attraktivem Umfeld (Image, Gestalt) aber einen Vorteil beim weltweiten „war for talents“ bieten – dem Wettbewerb um die besten Köpfe – und sich somit dennoch für Unternehmen rentieren.
Über 170 Maßnahmen entwickelten die Forschenden im Rahmen von Urban Factory I, das 2018 seinen vorläufigen Abschluss fand. Darunter eine aus Fabrikabwärme gespeiste Nahwärmeversorgung. Ein Thema, das gerade jetzt wieder besondere Aktualität besitzt. Im Mittelpunkt steht aber auch das grundsätzliche Teilen von Infrastruktur: So könnten Unternehmen ihre E-Ladesäulen jenseits der Betriebszeiten zur öffentlichen Nutzung bereitstellen oder ihre Werkskantinen und Büroräume für die Umgebung öffnen – sei es als Coworking Spaces oder zur Schaffung von kulturellen und sozialen Begegnungsorten. Und letztlich sind lokal hergestellte Produkte nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern können für ein Quartier auch identitätsstiftend sein. Manchmal ist es aber auch einfach nur das Zwischenmenschliche: Warum Lieferverkehr und Bauarbeiten nicht in Absprache mit den Anwohner:innen planen, um die Akzeptanz zu erhöhen?
Die Bedürfnisse im Blick haben
Das Forschungsprojekt Urban Factory II möchte diese Ergebnisse nun in die Praxis überführen. Ausgehend von den Partnerunternehmen in den Quartieren sollen in enger Absprache mit allen relevanten Akteurinnen und Akteuren jeweils passende Maßnahmen identifiziert und anschließend erprobt werden: „Wir gehen in die Quartiere und schauen, wo die Bedürfnisse und Herausforderungen bei den Anwohner:innen liegen“, erklärt mir Bucherer. Im Zentrum stehe dabei auch, ein lebendiges, stetig wachsendes Netzwerk mit regelmäßigen Quartiertreffen zu schaffen: „Wir möchten die Akteure vor Ort zusammenbringen. Denn die Voraussetzung für alles weitere ist, dass man sich kennt und miteinander redet“, verdeutlicht der Projektleiter. „Wenn ein ressourceneffizientes Miteinander in den Städten möglich sein soll, geht es letztlich für die Unternehmen auch darum, sich zu öffnen, also transparent zu sein und Teilhabe zu ermöglichen.“
Die Zukunftsvision der Projektpartner ist, dass mit Hilfe des nachhaltigen Maßnahmenkatalogs von Urban Factory I und II eine ressourceneffiziente Produktion zum selbstverständlichen Bestandteil moderner Stadtbilder wird. Als Leuchtturm könnte das Projekt für eine Multiplikation in viele andere Städte in Deutschland dienen. „Das wäre ein Gewinn für die umgebenden Quartiere mit einem großen Mehrwert für Gesellschaft und Natur“, ist der Architekt überzeugt und prognostiziert: „Sobald auch produzierende Unternehmen wieder Teil der städtischen Entwicklungsprozesse sind und gut vernetzt die Potenziale des urbanen Standorts nutzen, eröffnen sich viele neue Möglichkeiten und Vorteile für alle Beteiligten.“
Text: Stephen Dietl, 03.11.2022