Geschichte der Zeugen Jehovas: Einzelschicksal Auguste Imlau
In Zusammenarbeit mit der Braunschweiger Gemeinschaft der Zeugen Jehovas konnte durch die Dokumentation eines Einzelschicksals eine lange Zeit fast vergessene Opfergruppe in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Die Lebensgeschichte der Braunschweigerin Auguste Imlau, die als "Bibelforscherin" von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und mehr als fünf Jahre im KZ Ravensbrück leiden musste, konnte anhand neuer Quellen dargelegt werden. Die Materialien, darunter auch ein 1929 ausgestellter Ausweis der Braunschweiger Ortsgruppe der "Internationalen Bibelforscher-Vereinigung", wurden dem "Offenen Archiv" in der Gedenkstätte Schillstraße übergeben.
Aus: Stadt Braunschweig: Presseinformation vom 28. März 2001
Ein Schicksal wird vor dem Vergessen bewahrt:
Neue Dokumente belegen den Leidensweg der Braunschweigerin Auguste Imlau
"Ich muss noch bemerken, dass ich bis zu meinem Tode treu zu Jehova und seinem Wort, der Bibel, stehen werde. Davon kann mich keine Macht der Erde abbringen." Diese Worte finden sich im Protokoll der Vernehmung Auguste Imlaus bei der Gestapo in Braunschweig am 13. Oktober 1938. Zu diesem Zeitpunkt war Auguste Imlau wegen ihrer Betätigung für die damals illegale "Internationale Bibelforschervereinigung" (IBV) bereits mehrfach verurteilt worden.
Braunschweiger Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas recherchierten zur Lebensgeschichte Auguste Imlaus im Niedersächsischen Staatsarchiv in Wolfenbüttel. Die Ergebnisse dieser Nachforschungen werden in das kommunale Gedenkstättenkonzept ("Konzept zur Planung, Errichtung und Gestaltung städtischer Erinnerungsstätten zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft") aufgenommen. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der Zeit des Nationalsozialismus fand auch nach 1945 lange Zeit keine Beachtung. Mit dem Aktenbestand aus Wolfenbüttel, der in das "Offene Archiv" an der Schillstraße eingehen wird, ist jetzt weiteres Material zu der Opfergruppe der Zeugen Jehovas zugänglich.
Auguste Imlau wurde am 23. Januar 1876 als Auguste Kislat in Joachimsthal, Kreis Oletzko, geboren. Seit 1922 stand sie in Kontakt zu den Bibelforschern. 1926 ließ sie sich in Hildesheim taufen. In der Zeit des Nationalsozialismus lebte sie in Braunschweig, in der Karlstraße 25. Bereits im Dezember 1934 wurde sie erstmals wegen Aufrechterhaltung und Fortsetzung einer verbotenen Organisation zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, im Herbst 1937 wurde sie für zehn Monate in sogenannte Schutzhaft genommen. Eine weitere Haftstrafe von acht Monaten erhielt Auguste Imlau im Februar 1938 wegen ihres Einsatzes für die IBV.
Ende November 1938 überführte die Kriminalpolizei Auguste Imlau in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Königslutter. Der Anstaltsarzt und Medizinalrat Dr. R. Müller bescheinigte jedoch im Januar 1939, "dass bei Frau Imlau eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit nicht vorliegt". Er diagnostizierte allerdings eine Geistesschwäche, die die Fähigkeit zur Einsicht in das Unerlaubte ihres Tuns erheblich vermindere. Trotzdem verurteilte das Sondergericht in Braunschweig Auguste Imlau im Februar 1939 erneut wegen "Wiedererrichtung der verbotenen Organisation der Internationalen Bibelforschervereinigung, Vergehen gegen § 4 I der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat [...] und zugleich wegen Vergehens gegen § 2 des Heimtückegesetzes zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahre sowie zur Tragung der Kosten des Verfahrens".
Im Januar 1940 wurde ein Schutzhaftbefehl gegen Auguste Imlau mit der Begründung erlassen, sie gefährde durch ihr Verhalten, d.h. durch ihre Tätigkeit für die Internationale Bibelforschervereinigung, den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates. Mit einem Sammeltransport wurde Auguste Imlau (wahrscheinlich am 23. Februar 1940) in das Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert. Am 30. April 1945 erlebte sie dort die Befreiung durch Truppen der Roten Armee. Nach Kriegsende kehrte sie nach Braunschweig zurück.
Der Kreissonderhilfsausschuss Braunschweig-Stadt erkannte Auguste Imlau im Mai 1950 Haftentschädigung für volle 89 Monate Freiheitsentzug an. 1954 wurde ihr "verfolgungsbedingtes Leiden" von der Entschädigungsbehörde des Verwaltungsbezirkes Braunschweig als "Allgemeinschädigung" eingeordnet, die zum Erhalt einer monatlichen Rente von 250,-- DM berechtigte. Weitergehende Ansprüche zur Entschädigung von Schaden an Körper und Gesundheit wurden abgelehnt. 1960 starb Auguste Imlau.
Die Zeugen Jehovas gehören zu den religiösen Gemeinschaften, die von den Nationalsozialisten besonders rigoros verfolgt wurden. Bibelforscher, Ernste Bibelforscher oder Zeugen Jehovas nannten sich die Männer und Frauen, die in der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung (IBV) organisiert waren. Die Zentrale dieser Religionsgemeinschaft befand sich in New York, der organisatorische Mittelpunkt für Norddeutschland war das Bibelhaus Magdeburg. Von den zu Beginn der dreißiger Jahre etwa 25.000 Mitgliedern der IBV wurden 10.000 in Konzentrationslagern inhaftiert. 1.200 starben oder wurden ermordet, darunter etwa 250 Zeugen Jehovas, die vornehmlich wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet wurden. Bisher ist die Geschichte dieser Opfergruppe kaum erforscht. Erst seit einigen Jahren widmet sich die Wissenschaft den Schicksalen dieser Menschen.
Im "Offenen Archiv" der "Gedenkstätte KZ-Außenlager Braunschweig Schillstraße einsehbares Aktenmaterial aus dem Niedersächsischen Staatsarchiv in Wolfenbüttel:
- Brief der Auguste Imlau an einen Strafgefangenen im Braunschweiger Gefängnis vom 24. Dezember 1935
- Bericht über die Durchsuchung der Wohnräume in der Karlstraße 25 am 17. Januar 1936 mit Nachweis der sichergestellten Gegenstände
- Protokoll der Vernehmung Auguste Imlaus durch die Braunschweigische Politische Polizei am 17. Januar 1936 wegen Vergehens gegen die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat
- Einziehungsverfügung der Braunschweigischen Politischen Polizei vom 24. Februar 1936 (einbehalten wurden: 2 Wandkalender, 1 Liederbuch, 1 Büchlein "Die Taufe", 1 Inhaltsverzeichnis 1922-1927)
- Vernehmungsprotokoll der Gestapo vom 13. Oktober 1938 nach Festnahme Auguste Imlaus wegen staatsfeindlicher Äußerungen in der Öffentlichkeit
- Ermittlungsbericht der Gestapo vom 14. Oktober 1938 mit der Bitte um Erlass eines Haftbefehls
- Haftbefehl vom 14. Oktober 1938 wegen Aufrechterhaltung einer aufgelösten und verbotenen Organisation und böswilliger Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP
- Anklageschrift vom 29. Oktober 1938 zum Verfahren vor dem Sondergericht Braunschweig
- Aufnahmebescheinigung der Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Königslutter vom 22. November 1938
- Ärztliches Gutachten des Anstaltsarztes und Medizinalrates Dr. R. Müller vom 22. Januar 1939
- Urteil des Sondergerichts Braunschweig vom 18. Februar 1939
- Aufnahmebescheinigung des Gefängnisses in Braunschweig vom 17. März 1939
Literatur zum Thema:
- Hans-Ulrich Ludewig / Dietrich Kuessner: "Es sei also jeder gewarnt". Das Sondergericht Braunschweig 1933-1945. Braunschweig 2000, bes. S. 84-90.
- Hans Hesse / Jürgen Harder: "Und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müsste..." Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück. Essen 2001.
- Hans Hesse (Hg.): "Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas". Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Bremen 1998.
- Detlev Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im ‚Dritten Reich'. München 1993.