Chronik
Die Chronik 1938 - 2016
Wenn eine Institution 75 Jahre lang den musikalischen Takt einer Stadt mitbestimmt, wächst in ihrem Umfeld ein Fundus der Erinnerungen. Im Fall der Städtischen Musikschule Braunschweig besteht dieser Fundus vor allem aus Regalen voller Musik: Stunden über Stunden, von Klassik bis Jazz oder Pop, in Proberäumen und auf Bühnen, gespielt von zahllosen Musikern, mal auf der Suche nach dem richtigen Ton, mal mit Virtuosität. Dazu kommt der Spaß am Entdecken des Instruments, die Nervosität vor einem Auftritt, das Hochgefühl während des Applaus’. Stöbert man weiter, finden sich außerdem Orchestergründungen, Debatten über Lehrkonzepte, Gespräche mit Sponsoren und Politikern. Und Reisen. Und Feste. Und Vieles mehr. Ein Fundus, den Generationen errichtet haben.
Eine Institution allein ist bloß ein Haus, eine Satzung. Erst die Menschen, die sie prägen und die von ihr geprägt werden, erwecken sie zum Leben. Deshalb können nur die Beteiligten, die Schüler, Lehrer, Förderer, die Geschichte der Städtischen Musikschule erzählen. Der Stoff dafür sind ihre Erinnerungen.
Im Jahr 2013, am Rande der vielen Veranstaltungen zum 75. Jubiläum der Musikschule, werden so manche dieser Erinnerungen zu hören sein. Dabei können Eltern von ihren Kindern viel Neues erfahren, Anfänger von Ehemaligen, Schüler von Lehrern, die teilweise selbst in diesen Räumen unterrichtet wurden. Je mehr sich jeder Einzelne für die Geschichten des Anderen interessiert, umso mehr wird das Bild der Musikschule an Leben gewinnen.
Die Chronik der Städtischen Musikschule Braunschweig dagegen erzählt nicht ihre Geschichte. Sie liefert eine Erinnerungsstütze, dokumentiert Wendepunkte. Ihre Lücken sind Anreize für die wahren Erzähler. Sie verlangen danach, gefüllt zu werden.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein existierten in Deutschland nur wenige Musikschulen im heutigen Sinn. Musikerziehung fand vereinzelt statt – Kinder wohlhabender Familien erhielten Unterricht von Privatlehrern, Konservatorien bildeten zukünftige Berufsmusiker aus. Das änderte sich mit der Jugendmusikbewegung und ihrer Intention, den Zugang zur Musik auf breiter Basis zu ermöglichen. Angeregt von Musikpädagogen wie Fritz Jöde gründeten sich ab den 1920er Jahren vermehrt „Jugendmusikschulen“ in allen Teilen des Landes. Auch Braunschweig erhielt 1938 seine eigene Musikschule. Doch diese trug einen anderen Namen als heute – und arbeitete auch sonst unter anderen Voraussetzungen als die weltoffene Städtische Musikschule der Gegenwart.
Im Jahr 1938 kontrollierten die Nationalsozialisten die Gründung der Schule. Als Gebäude wählte man ein Haus in der Hochstraße, das vormals der „Schlaraffia“ gehört hatte, einer Gesellschaft zur Pflege von Kunst und Humor, die von der NSDAP verboten und enteignet worden war. Dort fand am 22. Oktober 1938 die Feierstunde zur Gründung der „Musikschule für Jugend und Volk“ statt. Trotz der nationalsozialistischen Beschwörungsformeln dieses wortgewaltigen Abends gehörten die letzten Töne der Musik: Gespielt wurde Johann Christian Bachs Quintett in Es-Dur.
Die Vereinnahmung der deutschen Kultur durch die Nationalsozialisten bleibt eine schmerzliche Erblast. Ein totalitäres System verschont nichts und niemanden, nicht die Menschen, nicht die Ideen, nicht einmal die Musik. Doch ließen sich Mozarts Violinkonzerte oder Bachs Wohltemperiertes Klavier ideologisch verfärben? Einige der Schülerinnen und Schüler suchten in der Musik sicher auch Zuflucht. Sie hätten der jüdischen Cellistin Anita Lasker-Wallfisch zugestimmt. Die Holocaustüberlebende brachte ihr Verhältnis zur Musik während der NS-Zeit kürzlich in der FAZ auf den Punkt: „Die Musik steht über allem. Sie ist nur für mich da. Die Musik ist nie beschmutzt, von gar nichts.“
Die „Musikschule für Jugend und Volk“ existierte bis 1944. Während des Kriegs wurde der Unterricht eingestellt. Das Schlaraffia-Haus in der Hochstraße nahm in den nächsten Monaten durch die Bombenangriffe einigen Schaden, Braunschweig wurde nahezu zerstört. Und auch nach Kriegsende blieb die Schule zunächst geschlossen. Doch inmitten des Mangels und der Zerstörung der Nachkriegszeit wuchs die Sehnsucht nach Musik, nach dem Musizieren, das den Menschen in jeder Situation Trost und Hoffnung spendet.
Ideologisch befreit wurde unter einem anderen Namen der Unterricht am 2. Januar 1946 wieder aufgenommen: Die Städtische Musikschule der Stadt Braunschweig bedeutete einen Neuanfang. Sie gehörte nicht länger zum Netz einer staatlich gelenkten Jugendorganisation oder deren Ideologie, sie war eine selbstständige Institution mit eigener Verwaltung, wenn auch zunächst ohne Statut. Ihren Sitz fand die Schule erneut in den Räumen des Schlaraffia- Hauses. Die Leitung übernahm der bis dahin vor allem als Musikkritiker aufgetretene Werner Oehlmann. Unter seiner Verantwortung unterrichteten 18 Lehrer rund 150 Schüler im noch erhaltenen Teil des Hauses, wobei der Instrumentenbestand stark reduziert war.
Angesichts dieser herausfordernden Umstände ist umso bemerkenswerter, dass die Musikschule schon am 23. Juni 1946 ihren ersten öffentlichen Auftritt gab und die Uraufführung des musikalischen Märchens „Brüderchen und Schwesterchen“ von Alexander Wagner präsentierte, womit sie nicht nur ihren Eifer, sondern auch das Interesse an der Musik der Gegenwart bewies. Das moderne Werk, so schreibt die Braunschweiger Zeitung, schließe eine Lücke, „die durch die vergangenen Jahre in die Reihe der schaffenden Musik“ gerissen worden war – und das Konzert sei „weit über den Rahmen eines Schülerabends hinausgewachsen“.
Bald darauf, im Dezember des Jahres 1946, sorgte die Musikschule für ein weiteres Ereignis. In der unzerstörten Michaeliskirche führte sie die älteste erhaltene Weihnachtshistorie von Michael Roger aus dem Jahr 1603 auf. Und die Braunschweiger drängten in dieses erste Weihnachtskonzert nach dem Krieg. Mit diesem Konzert hat die Musikschule ein wichtiges Stück Musikgeschichte dieser Stadt geschrieben.
Nicht nur mit Konzerten, auch mit Vorträgen ging die Musikschule – in diesem Fall ihre Lehrkräfte – an die Öffentlichkeit. Dabei wandte man sich teilweise den neuen Richtungen der Musik zu. So etwa 1949, um den Braunschweiger Bürgern die Klänge des Jazz vorzustellen. Über sechs Wochen reichte der „Experimentelle Vortragszyklus“ zum Thema „Die Jazz-Musik – Jazz als Kunstdisziplin“, an dem auch das Akademische Hilfswerk, das Amt für Kultur und mehrere Jazzbands beteiligt waren.
Werner Oehlmann, der den frischen Start der Musikschule dirigieren half und ihre Lehrer und Schüler darin bestärkte, öffentlich aufzutreten, war zu dieser Zeit bereits aus seiner Position ausgeschieden. Schon 1948 verließ er Braunschweig, um als Musikkritiker beim „Tagesspiegel“ in Berlin anzufangen. Später verfasste er zahlreiche Bücher, darunter Reclams Lied-, Chor-, Klavier- und Kammermusikführer, die eine breite Leserschaft fanden. Seine Nachfolge übernahm kommissarisch zunächst Horst Becker, Lehrer für Cembalo an der Musikschule. Doch auch seine Amtszeit dauerte nur wenige Jahre. Erst 1951 fand sich mit Professor Dr. Paul-Friedrich Scherber ein Direktor, der die Musikschule auf lange Sicht prägen sollte.
Scherber brachte einen großen Erfahrungsschatz und fortschrittliche Ideen über Musikerziehung mit nach Braunschweig. Er war u.a. Leiter der Musikabteilung an der Volkshochschule Stuttgart und Leiter der Abteilung Musikerziehung an der Frankfurter Musikhochschule. Er vertrat ein Lehrkonzept, das nicht auf Drill und Zwang, nicht auf der Vergötterung von Leistung basierte, sondern das Spielen von Instrumenten tatsächlich als Spiel begriff. Für ihn standen Intuition und Improvisation höher als Perfektion, um die Sprache der Musik zu begreifen und zu erfahren. Er wollte nicht einfach eine neue Generation Berufsmusiker heranzüchten, oder mit seinen eigenen Worten: „kein Treibhaus, sondern eine Pflanzstätte“ leiten. Es ging ihm um die „Erweckung und Bewahrung der Freude am Musizieren“. Die Schüler sollten über die Beschäftigung mit dem Instrument zu sich selbst finden – und auf diesem Weg gleichermaßen zur Musik. Mit dieser ganzheitlichen Methode dachte Scherber einen Schritt weiter als viele seiner Kollegen in den 50er Jahren. Seine Ideen spielen bis heute eine wichtige Rolle im pädagogischen Konzept der Städtischen Musikschule Braunschweig.
Im selben Jahr als Paul-Friedrich Scherber die Leitung der Schule übernahm, wurde die Schulordnung vom Schulausschuss verabschiedet, womit die Richtung der zukünftigen Arbeit feststand. Dazu gehörte die Orientierung an neuzeitlichen Unterrichtsgrundsätzen. Diese Fortschrittlichkeit sprach sich bald herum und immer wieder besuchten – zum Teil ausländische – Musikpädagogen Braunschweig, um sich über die Lehrmethoden zu informieren, beispielsweise 1964 der finnische Direktor des Konservatoriums Turku.
Doch zurück nach Braunschweig in das Jahr 1951. Dieses Jahr beendete die Musikschule mit einem Konzert im Braunschweiger Dom, an dem Solisten des Staatstheaters teilnahmen – eine erste erfolgreiche Zusammenarbeit, die anschließend fortgesetzt wurde. Ende der 1950er Jahre konnten Musiker des Braunschweiger Staatsorchesters als Lehrer gewonnen werden. Und mit den zusätzlichen Lehrkräften kamen neue Unterrichtsfächer hinzu, darunter Flöte, Oboe, Klarinette und Kontrabass, Fagott und Horn. Die Musikschule baute ihr Angebot und ihre Kapazitäten aus, beflügelt von der öffentlichen Anerkennung und der hohen Nachfrage aus der Bevölkerung. Das Wachstum bremste nur ein Hindernis: Der Musikschule stand nicht genug Platz zur Verfügung. Das beschädigte Schlaraffia-Haus in der Hochstraße wurde zwar Stück für Stück wieder in Stand gesetzt, doch die Situation blieb beengt. Ende der 1940er Jahre fand der Unterricht in kargen acht Räumen statt. Ein paar Jahre später hatte sich die Lage zwar verbessert, doch nach wie vor mussten über dreißig Wochenstunden in den Privatwohnungen der Lehrer abgehalten werden. So wundert es nicht, dass die Schule allein 1954 über hundert Anmeldungen ablehnte – sie hätte sich sonst mit einem Schlag um die Hälfte ihrer bisherigen Schülerzahl vergrößert.
Das Raumproblem der Musikschule war kein Geheimnis und die Stadt suchte nach Lösungen. Seit 1956 befand sich die ehemalige so genannte Hörstelsche Villa am Augusttorwall in ihrem Besitz, die im Stil des Historismus von Josef Maria Krahe gebaut worden war. Nachdem der Stadtrat zunächst mit dem Gedanken spielte, das Gebäude abzureißen, beschloss er am Ende, die hundertjährige, kastellartige Villa zu renovieren und für die Musikschule auszubauen.
Ein Jahr später, am 5. September 1957, fand die große Einzugsfeier am Augusttorwall statt, wo auch heute noch die Verwaltung und mehrere Unterrichtsräume zu finden sind. Kaum hatte sie sich aus der räumlichen Enge befreit, stieg die Schülerzahl, die Zahl der Konzerte, die nationalen und internationalen Kooperationen. Diese Entwicklung blieb in anderen Städten nicht unbemerkt, wie man in den Glückwunschtelegrammen aus Hannover oder Hamburg lesen konnte. Viele Gemeinden nahmen die Wertschätzung zur Kenntnis, mit der Braunschweig seiner Musikschule begegnete – so befand sie sich beispielsweise als erste Musikschule der Bundesrepublik in der Trägerschaft ihrer Stadt. Zu dieser Wertschätzung gehört ebenfalls das Engagement privater Sponsoren, die bis zum heutigen Tag wichtige Unterstützung leisten. Damals, beim Einzug der Musikschule in die Hörstelsche Villa, waren die beiden traditionsreichen Braunschweiger Pianofortefabriken zur Stelle. Die Wilhelm Schimmel GmbH (Öffnet in einem neuen Tab) stiftete zwei Pianos und ein Musikzimmer, Grotrian-Steinweg (Öffnet in einem neuen Tab) unterstützte den Umzug finanziell.
Trotzdem überflügelte das Wachstum der Schule bald auch das Fassungsvermögen der hergerichteten Räume am Augusttorwall, so dass in den 1960er Jahren die Aufnahme neuer Schüler erneut gestoppt werden musste. Also wurde die Villa weiter ausgebaut: Man wollte eine „musische Oase“ schaffen. Zusätzlich richtete man in den Volksschulen Lehndorf-Siedlung und Querum Zweigstellen ein, womit die räumliche Expansion der Musikschule vorerst abgeschlossen war.
Um das Jahr 1960 ereigneten sich zwei wichtige personelle Veränderungen. Der geschätzte Leiter der Klavier- und Kammermusikklasse Kurt Herfurth nahm den Posten als Direktor der Musikakademie Kassel an und wurde 1959 mit vielen Blumen und Dankesworten verabschiedet. Die Fachklasse Klavier übernahm daraufhin ein junger Konzertpianist namens Karl-Heinz Kämmerling, dessen „technische Brillanz“ der Presse schon bei seinem ersten Klavierabend auffiel. Dennoch ahnte wohl niemand, dass aus Kämmerling einer der angesehensten Musikpädagogen Deutschlands werden sollte. Später gingen aus seiner Meisterklasse an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover viele bedeutende Pianisten hervor. Für seine Leistungen erhielt er den Bundesverdienstorden I. Klasse.
Außerdem legte Paul-Friedrich Scherber sein Amt 1961 nach zehn erfolgreichen Jahren nieder. Zum Abschied bilanzierte die Braunschweiger Zeitung über den unkonventionellen Pädagogen: „Sein Lehrprinzip, das im vergangenen Jahrzehnt so vielen Schülern zugutekam, stieß in konservativen Kreisen zuweilen auf Ablehnung. Die unbestreitbaren Erfolge haben sich jedoch so klar abgezeichnet, dass es unklug wäre, Scherbers Unterrichtsgrundsätze nicht weiter in Braunschweig zu verfolgen.“ Sein Nachfolger wurde Rudolf Bayer, der bereits kurz zuvor die Leitung der Violinklasse und des Orchesters von Scherber übernommen hatte und als stellvertretender Direktor mit den Belangen der Musikschule gut vertraut war.
Unter Bayers Leitung festigte die Musikschule ihren Anspruch, nicht nur Ausbildungsstätte, sondern ein Faktor im Musikleben der Stadt zu sein. Zwei Monate nach seinem Amtsantritt dirigierte er das Orchester im Rahmen des ersten Serenadenabends, der im Braunschweiger Rathaushof stattfand. In der Atmosphäre erleuchteter Rathausfenster trugen die jungen Musiker Werke von Bach, Gluck, Telemann und Boccherini vor. Das Publikum war beeindruckt, von der musikalischen Darbietung, wie vom räumlichen Arrangement. Und so wurde aus dem Serenadenabend eine kleine Tradition, welche die Musikschule in den kommenden Jahren pflegte.
Vielleicht noch folgenreicher als die Konzerte vor Ort wirkte sich Bayers Bestreben aus, seine Schüler überregional Erfahrungen sammeln zu lassen und sogar mit ihnen die Welt zu bereisen. Ein erster Ausflug führte das Orchester 1962 nach Berlin, wo es gemeinsam mit den Orchestern der Volkshochschulen Reinickendorf und Schöneberg zwei Konzerte gab. Ein paar Tage darauf gastierten die Berliner Musiker im Gegenzug in Braunschweig und konzertierten im Martino-Katharineum. Die Formel für zukünftige Kooperationen war gefunden und jede Seite profitierte davon: Man suchte nach zuverlässigen Partnern und stattete sich gegenseitig Besuche ab, lernte andere Schüler, deren Lehrer und das Publikum in anderen Teilen des Landes bzw. der Welt kennen. Daraus ergaben sich mitunter langjährige Beziehungen, weshalb die Besuche in vielen Fällen wiederholt wurden. So fuhr das Orchester der Städtischen Musikschule auch 1964 nach Berlin, um zwei Auftritte in Neukölln und Spandau zu absolvieren.
Waren die Berlin-Reisen für die jungen Musiker aufregend gewesen, durften sie sich bald auf ein noch größeres Abenteuer freuen. Denn 1966 verließ die Musikschule zum ersten Mal die Grenzen der Bundesrepublik und machte sich auf den Weg nach Bath, Braunschweigs englischer Partnerstadt. Diesmal spielten das Kammerorchester unter Rudolf Bayer sowie das Studioorchester, geleitet von Gerhard Müller-Seidlitz. Sie sammelten erneut positive Erfahrungen und 1972 beschloss man, die Reise zu wiederholen.
Da ihr die ersten Schritte auf internationalem Parkett so beschwingt gelangen, setzte die Musikschule ihre Exkursionen fort. Im Jahr 1967 standen gleich zwei neue Ziele auf dem Programm: Als „Botschafter der Musik“ fuhren 31 Schülerinnen und Schüler in die norwegische Hauptstadt Oslo. Ihnen zu Ehren veranstaltete Oslos Oberbürgermeister einen Empfang, bevor sie im großen Saal des Munch-Museums auftraten. Unterstützung erhielten sie von norwegischen Musikschülern, die sich kurz darauf mit einem Konzert im Braunschweiger Martino-Katharineum revanchierten. Die zweite Reise des Jahres führte das Streichquartett, das aus Lehrern der Schule bestand, in eine weitere Partnerstadt Braunschweigs, nach Nîmes. Daraufhin wurden die Beziehungen zur französischen Partnerstadt ausgebaut. 1970 folgte erstmals eine Gruppe von Schülern unter der Leitung Rudolf Bayers, die von Tagen voller Konzerte, Proben, Besichtigungen und Aufnahmen für Rundfunk und Fernsehen berichteten. Und auch als Nîmes 1982 sein 2000-jähriges Bestehen feierte, war die Musikschule in Form des Jugendsinfonieorchesters mit von der Partie.
Der Austausch mit anderen Ländern erreichte 1969 eine besondere Dichte. Organisiert von Gerhard Müller-Seidlitz fand in Braunschweig ein Internationales Jugendmusikseminar statt, zu dem Teilnehmer aus Frankreich, England und Norwegen kamen. Als Höhepunkt der Veranstaltung formte sich ein Sinfonieorchester aus über hundert jungen Musikern zwischen zehn und zweiundzwanzig Jahren, das in der Neuen Oberschule ein Abschlusskonzert gab.
Der Blick der Musikschule richtete sich in all den Jahren jedoch nicht nur in die Ferne. Neben der Ausdehnung des Horizonts auf die große Welt, schenkte man auch der Welt zuhause Beachtung. Das Thema Frühförderung, das bis heute ein Eckpfeiler der Schule ist, erhielt 1968 besondere Aufmerksamkeit. Damals startete bundesweit eine Initiative für die musikalische Erziehung von Vorschulkindern: eine Neuheit, ein Modellkurs. 27 Musikschulen wurden dafür ausgesucht – und Braunschweig war dabei. Einmal in der Woche nahmen vierjährige Jungen und Mädchen an dem Programm teil, das keine Dressur zum Musikgenie, sondern ein fröhlicher musikalischer Kindergarten sein sollte. Sie spielten rhythmische Spiele, lernten behutsam das Tastenspiel kennen oder wurden an das Orffsche Instrumentarium herangeführt.
Viele dieser Unterrichtsinhalte finden sich heute in der „Musikalischen Früherziehung“ wieder. Darüber hinaus arbeitet die Musikschule als Projektpartner des Landes im Programm „Wir machen die Musik“ mit mehreren Kindertagesstätten und Grundschulen zusammen. In Kooperation mit der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover beherbergt die Städtische Musikschule eine der drei niedersächsischen „VIFF“- Regionalzentren und damit eine Vorklasse zum Institut für Frühförderung musikalisch Hochbegabter. Darin werden Kinder zwischen acht und zwölf Jahren neben ihrem Instrumentalunterricht drei Jahre lang in den Fächern Gehörbildung, Musiktheorie und Rhythmus geschult.
Anfang der 70er Jahre zeichnete sich wieder ein Wechsel an der Spitze der Musikschule ab. Rudolf Bayer übergab den Taktstock des Orchesters an seinen Stellvertreter Gerhard Müller- Seidlitz. Unter dessen Leitung unternahm die Schule 1973 ihre bislang weiteste Reise: in die USA. Eine kleine Tournee entlang der Ostküste führte das Orchester erst nach Pittsburgh in Pennsylvania, wo es ein Konzert in der Beulah United Presbyterian Church gab, und anschließend nach Oxon Hill in Maryland, auf Einladung der Dwight D. Eisenhower Stiftung.
Im selben Jahr trat Rudolf Bayer in den Ruhestand. Oberstadtdirektor Hans-Günter Weber dankte ihm im Rathaus für 13 Amtsjahre und betonte, er habe „das Ansehen der Schule und deren Leistung vergrößert“.
Nachdem Gerhard Müller-Seidlitz bereits die künstlerische Nachfolge Rudolf Bayers übernommen hatte, wurde er nun auch neuer Direktor der Städtischen Musikschule und setzte den eingeschlagenen Weg fort. In der Folgezeit blühte der Schulbetrieb weiter auf, die Schülerzahl stieg bald auf 1300, neue Fächer, neue Ensembles und neue Orchester kamen dazu. Die Reputation der Schule wuchs auch dank zahlreicher Musikpreisträger, die aus ihr hervorgingen. Jahr für Jahr kehrten Schülerinnen und Schüler mit Auszeichnungen vom Landes- und Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ zurück. Erste Absolventen der Schule begannen Karrieren als Berufsmusiker. Bis heute waren ehemalige Schülerinnen und Schüler u.a. engagiert beim Staatsorchester, beim Frankfurter Sinfonieorchester, bei den Berliner Philharmonikern, der Frankfurter Oper, dem Rundfunkorchester Saarbrücken, der Deutschen Oper Berlin oder spielten in erfolgreichen Musikgruppen.
Welche Begabung in so manchen Schülern steckte, fiel auf, bevor sie Karriere machten. Die Qualität der Konzerte der Musikschule hatte sich längst herumgesprochen. Es wundert daher nicht, dass die Stadt Braunschweig bei offiziellen Anlässen gern die musikalische Begleitung der Schule in Anspruch nahm. Ob 1971 beim „Deutschen Baumeistertag“, 1973 zum Volk trauertag oder bei späteren Gelegenheiten erarbeiteten die jungen Musiker gemeinsam mit ihren Lehrern passende Programme.
Dem Ausschwärmen der Musikschule in die weite Welt blieb Gerhard Müller-Seidlitz ebenfalls treu. Neben Ausflügen nach Frankreich, Österreich, Schweden oder 1975 nach Bradford in England, wo die Schule fünf Konzerte vor 3000 Zuhörern gab, waren besonders die Reisen nach Israel von Bedeutung. 1976 packten 50 Mitglieder des Jugendorchesters erstmals ihre Koffer, um mit dem Flugzeug in den Nahen Osten zu fliegen. Sie spielten in Tel Aviv, Beer Sheva, Zefat, Jerusalem und dem Kibbuz Ein Hashofet. Die Begegnungen waren herzlich, man knüpfte Kontakt zum Jugendorchester Jerusalem, das im folgenden Jahr nach Braunschweig kam. Ein zweiter Besuch in Israel folgte, in dessen Rahmen die Stadt Jerusalem einen Empfang für die Gäste veranstaltete. Einen ihrer größten Fans fand die Musikschule in ihrem Förderer und Mäzen Friedrich Theodor Kohl. Beim Aufbau der freundschaftlichen Kontakte nach Israel in den 1980er Jahren leistete er mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, deren Vorsitz er inne hatte, wesentliche Pionierarbeit. In den folgenden Jahren stiftete er Instrumente, sammelte Spenden und ließ den Clara Schumann Flügel aus der Sammlung des Städtischen Museums restaurieren. Friedrich Theodor Kohl ist Ehrenbürger der Stadt und der Städtischen Musikschule bis heute innig verbunden.
Zuhause in Braunschweig wandelte sich Ende der 1970er Jahre die Musiklandschaft. Die ebenfalls 1938 gegründete Einrichtung zur Ausbildung von Musikern und Musikpädagogen „Niedersächsische Musikschule Braunschweig“ existierte nicht länger und die Städtische Musikschule zog in ihre Dependance am Theaterwall ein. Damit übernahm sie die Vorbereitung auf eine Hochschulausbildung, die bislang der „Niedersächsischen“ oblag. Heute noch werden begabte Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Studienvorbereitenden Ausbildung, die lange von Karl-Heinz Kämmerling geleitet wurde, intensiv gefördert. Sie erhalten 4 bis 5 Stunden pro Woche Unterricht in einem Haupt- und Nebenfachinstrument sowie in Musiktheorie, Ensemble-, Band- oder Orchesterspiel. Ausgestattet mit diesem musikalischen Rüstzeug findet eine große Zahl der Teilnehmer einen Studienplatz.
Die Übernahme des Hauses am Theaterwall markiert einen weiteren Schritt der Expansion. Betrachtet man die Zahlen der Musikschule Anfang der 80er Jahre, wird deutlich, auf welchem Level sie inzwischen operierte. 1600 Schüler wurden von 54 Lehrern in 686 Wochenstunden unterrichtet. Zugleich lagen 1400 Neuanmeldungen vor, die nach weiteren 50 Lehrerstellen verlangt hätten, was die Möglichkeiten des Budgets jedoch sprengte. Schon jetzt musste ein neues Gebäude gefunden werden, um den enormen Schulbetrieb räumlich zu bewältigen. In der Gerloffschen Villa am Löwenwall fanden ab 1983 die Formsammlung des Städtischen Museums und die Bläser der Städtischen Musikschule eine neue Heimstätte. Ihr bislang letztes Domizil bezog die Musikschule 1990. Das Haus aus den Gründerjahren am Magnitorwall liegt in unmittelbarer Nähe zum Staatstheater und verschiedenen Museen und gehört damit zu Braunschweigs Kulturmeile. 23 neue Unterrichtsräume kamen hinzu, während die Häuser am Theaterwall und in der Hochstraße aufgegeben wurden. Der Umzug war das letzte große Projekt, das Gerhard Müller-Seidlitz als Direktor der Schule realisierte. Zur gleichen Zeit ging er in den Ruhestand und blickte auf eine ereignisreiche Laufbahn zurück: 1956 hatte er angefangen als einer von sechs Lehrkräften, die in einer Handvoll Räumen unterrichteten. Seitdem war viel geschehen und die Städtische Musikschule galt als beispielhaft in der Bundesrepublik, nicht zuletzt dank des unermüdlichen Einsatzes ihres Direktors.
Sein Nachfolger Mario Liepe sah sich in den 1990er Jahren vor neue Herausforderungen gestellt. Die Stadt Braunschweig unternahm umfangreiche Maßnahmen zum Schuldenabbau, wovon auch die Musikschule in städtischer Trägerschaft nicht verschont bleiben konnte. Nach Jahrzehnten, die finanziell relativ entspannt waren und höchstens ab und an die Erhöhung des Schulgeldes forderten, schrumpften nun die öffentlichen Zuschüsse. Doch die Musikschule verstand es, auf die veränderte Lage zu reagieren. Seit jeher fand ihre Arbeit zahlreiche Förderer aus dem privaten wie dem geschäftlichen Bereich. Es gründete sich der Konzert- und Förderverein, bestehend aus Eltern, Freunden und privaten Unternehmen. Die Mitglieder unterstützen die Schule ideell und finanziell bei Konzertreisen oder Auftritten und spenden immer wieder große Geldbeträge, um Instrumente zu restaurieren oder neue anzuschaffen. Ähnliche Förderung kommt von privaten Stiftungen, mit denen die Schule mitunter seit Jahren fest zusammenarbeitet. Die Gertrud Fricke Stiftung beispielsweise, die den Nachlass einer wohlhabenden Braunschweiger Klavierlehrerin verwaltet, verleiht regelmäßig Stipendien an die Jazzpiano-Klasse.
Den künstlerischen Elan konnten diese Unwägbarkeiten ohnehin nie bremsen. Davon zeugen die vielen Konzerte, Projekte, Ensembles der Schule. Man begann mit der Produktion eigener CDs, etablierte die inzwischen zur Tradition gewordenen Konzertfeste zum Karneval und präsentierte erstmals das Eröffnungskonzert der Musikschultage im Großen Saal der Braunschweiger Stadthalle. So manches Ensemble brachte es zu überregionaler Bekanntheit. Dazu zählen u.a. die „Niedersaxofoniker“, die Hanns-Wilhelm Goetzke 1988 gründete und bis heute leitet. Das Ensemble aus etwa 20 Musikern beweist bei seinen Auftritten die Vielseitigkeit des Saxofons und bringt gleichermaßen barocke wie avantgardistische Musik zum Klingen. Oder Braunschweigs Querflötenorchester Flautissimo, das 2010 an der Uraufführung eines Musiktheaters von André Serre-Milan mitwirkte, nachdem die Regisseurin Sylvia Freitag acht Jahre lang ein junges Ensemble gesucht hatte, das die komplexe Partitur des Stücks „Kokopelli, der bucklige Flötenspieler“ bewältigen konnte. Dazu kommen die Big-Band, das Schlagzeugensemble „Schlagwerk total“, das Akkordeonorchester, die Samba-Band und viele andere mehr. Natürlich darf in dieser Aufzählung das Jugend-Sinfonie-Orchester nicht fehlen, das sich in den letzten Jahren verstärkt zeitgenössischer Musik zugewandt hat. Und der selbstgewählte Anspruch wird belohnt: 2012 erhielt das Orchester beim Deutschen Orchester Wettbewerb zum sechsten Mal den Sonderpreis für die Interpretation eines zeitgenössischen Werkes. Dass es sich bei Julian Lembke, dem Komponisten des Stücks „... dann in die Elemente“ um einen früheren Schüler der Musikschule handelt, krönte den Erfolg umso mehr.
Programmatisch öffnete sich die Schule unter Mario Liepe in den 1990er und seinem Nachfolger Dr. Hans Krauss in den 2000er Jahren – und besann sich im selben Moment auf vertraute Werte.
2013 übernahm Alexander Käberich für kurze Zeit die Schulleitung. Im März 2015 wurde Daniel Keding neuer Leiter der Städtischen Musikschule. Bis dahin führte Karle Bardowicks sie erfolgreich als kommissarischer Schulleiter.
Die Idee der Jugendmusikbewegung, allen Schichten des Volkes das Musizieren nahezubringen und der ganzheitliche Anspruch Paul-Friedrich Scherbers leben in zeitgemäßer Form immer neu auf. Jede Lehrkraft, betonte Mario Liepe, müsse den Spagat zwischen musikalischer Breitenarbeit und Eliteförderung beherrschen. Zudem rückte soziale Verantwortung in den Fokus der Pädagogik. Denn neben den künstlerischen Fertigkeiten schult Musizieren auch Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und Kommunikation. „Unsere Gesellschaft leidet an Vereinzelung, aber im Orchester wird Musik zum Gemeinschaftsprodukt und sozialen Erlebnis.“