Meine Damen und Herren,
ich habe das Vergnügen, Ihnen als Erstes zu sagen, was Ihnen Julia Hammid, Valeska Heinemanns Enkelin, wohnhaft in Baltimore, ausrichten lässt:
"I wish I could be there with you today but instead I send my congratulations and warm greetings (...). I will enjoy this wonderful celebration with you in spirit!"
Nun aber zu Valeska Heinemann selber. Einen großen Teil ihrer Kindheit verbrachte sie in einem Haus an der Poststraße, das sich in der Häuserzeile des zur Zeit leerstehenden Karstadt-Einrichtungshauses befand und von vielen Familien bewohnt wurde. Auf der anderen Straßenseite führte Valeskas Vater Berthold eine Engroshandlung mit Näh- und Wollwaren. Durch den Handel mit Grundstücken in guter Geschäftslage kam er zu einigem Reichtum. Er war ein passionierter Schachspieler und Freigeist.
Verheiratet war er mit Fanny Kunstmann, der Tochter eines Reeders in Stettin, der dreizehn Kinder hatte. Sie hielt Valeska zu fleißigem Staubwischen an und sagte, ohne diese und andere Hausfrauentugenden werde aus ihr „eine Waschfrau“. Valeska konnte sich später an keine Zärtlichkeiten ihrer Mutter erinnern, verzieh ihr aber ihr Unverständnis und ihre besitzergreifende Verhaltensweise.
Ihre beiden älteren Brüder Ludwig und Walter und der acht Jahre jüngere Fritz sollen sie, die einfach Lette gerufen wurde, gemocht haben, berichtet sie, aber sie waren „too busy with themselves and their lives“.
Valeska ging nicht nur zehn, sondern zehneinhalb Jahre lang auf die Städtische Mädchenschule Kleine Burg, weil sie immer Schwierigkeiten mit den Aufsatzthemen, der französischen Grammatik oder ganz allgemein mit der Aufmerksamkeit im Unterricht hatte und einmal sitzenblieb. Am Liebsten traf sie sich mit der vier Jahre jüngeren Emmy Esther Scheyer, die sich später Galka Scheyer nannte. Die beiden „höheren Töchter“ liebten es, in den Gassen und Hinterhöfen ihrer Fachwerkstadt herumzustreunen und in allerlei Gärten Blumen zu stehlen. Relativ früh lernten sie das Radfahren schätzen. In den Wäldern träumten sie davon, frei zu sein, zu lernen, was sie wollten und in die weite Welt hinauszuziehen.
Nach Valeskas obligatorischer Schulzeit lebte Familie Heinemann, die selten oder nie teilnahm an den Feiern in der Braunschweiger Synagoge, zwei Jahre lang in Berlin. Valeska besuchte mit ihrem Vater zusammen, der ihre Sehnsucht nach Freiheit teilte, Kurse in Französisch, Englisch und Italienisch. 1910 wohnte die 25jährige in Brüssel und arbeitete als „Secrétaire de l'Institut technique industriel“. 1912 hielt sie sich in London auf.
Beim Kriegsausbruch 1914 traf sie sich wieder mit Emmy Scheyer in Braunschweig. Die Beiden beschlossen, ihr Glück im besetzten Brüssel zu suchen. Valeska arbeitete als Sekretärin, Emmy nahm Unterricht beim Maler Jos Albert und beschwor ihre Freundin, ihr das eine oder andere Bild abzukaufen. Fotos zeigen, dass Valeska auch in verschiedenen Roben und Posen Modell stand. Viele Jahre später schrieb sie: „Die Resultate gefielen mir gar nicht. Ich hätte lieber wie eine Madonna ausgesehen, anstatt wie eine Bacchantin.“
Valeska Heinemann verliebte sich in Ernst Heymann, einen Chemiefabrikanten aus Frankfurt am Main. 1919 besuchte sie ihre Eltern am Petritorwall 2 und bereitete ihre Hochzeit vor. Im Oktober dieses Jahres reiste sie im Auftrag der Familie Scheyer nach Ascona im Tessin und holte ihre Schulfreundin nach Braunschweig zurück. Bei dieser Gelegenheit lernte sie den Maler Alexej Jawlensky kennen.
Ernst Heymann und Valeska Heinemann heirateten und wurden Eltern einer Tochter. Hella heranwachsen zu sehen, war für die 36jährige Mutter ein großes Glück. Sie gratulierte der fünf Jahre jüngeren Emmy im Mai 1922 zu ihrem Geburtstag, nannte sie „du altes Karnickel“ und sich selber „die Alte“.
Zehn Jahre später wohnte sie in Paris und half ihrem Mann beim Aufbau einer Filiale seiner Chemiefabrik. Wieder in Frankfurt, erlebte sie die absolute Zeitenwende. „Unsere Rückkehr 1933 wurde uns durch das antisemitische Verhalten unserer Angestellten, die die Fabrik in Frankfurt in Besitz genommen hatten, unmöglich gemacht“, berichtet sie. Familie Heymann lebte fortan in Paris, 1937 fing sie in New York gezwungenermaßen ein neues Leben an. Das Ehepaar verstand sich aber immer weniger. Es kam zur Trennung.
Valeska zog mit ihrer Tochter nach Los Angeles und traf sich mit Galka Scheyer. Die beiden schrieben Jawlensky einen Brief. Valeska frohlockte: „Unser Zusammensein hier ist für mich das Zurückversetzen in meine Jugendzeit“, und Galka schrieb, ihre Freundin werde „Photographie lernen, um endlich weg vom rein Geschäftlichen in eine künstlerischere Tätigkeit sich zu vertiefen.”
Lette Valeska fotografierte Kinder und kam dabei in Kontakt mit David O. Seznick, dem Produzenten von Filmen wie „Anna Karenina“ und „Vom Winde verweht“. Seznick war so begeistert von den Kinderporträts, dass er Valeska mit Filmschauspielern und deren Kindern bekannt machte, was zur Folge hatte, dass Zeitschriften Valeska baten, Porträts herzustellen von Liz Taylor, Doris Day, Gregory Peck, James Stewart und vielen anderen „Moviestars”. Diese Aufnahmen existieren noch, sie wurden vor einigen Jahren in der Tschechoslowakei ausgestellt und könnten auch einmal in Braunschweig gezeigt werden.
Valeska hatte schon 1935 in Paris begonnen, Bilder zu malen. Galka Scheyer, die regelmäßig Kindern und Jugendlichen Malutensilien mit dem Rat zur Verfügung stellte, ganz aus sich selbst heraus zu malen, was sie bewegt – Galka Scheyer also spornte Valeska an, weitere Bilder zu malen. Es entstanden Darstellungen im Stil der Naiven, zum Beispiel ein Bild, das eine vage Erinnerung an den Innenraum der Braunschweiger Synagoge festhält. Das großformatige Bild konnte ich in der Broschüre „Galka Scheyer in Braunschweig” abbilden und beschreiben.
Schließlich fand Valeska zu ihrer ganz eigenen Ausdrucksweise und malte hochgewachsene Figuren, die durch ihre schlitzförmigen Augen in schmalen Köpfen gekennzeichnet sind und meistens Szenen aus dem jüdisch geprägten Leben darstellen. Geschichte und Schicksal der Juden wurden Valeska immer wichtiger.
Ende November 1945 hörte sie, dass Bürger der Stadt Rijswijk bei Den Haag Juden vor den Nationalsozialisten versteckt und beschützt hatten. Sie sorgte dafür, dass Kinder in Los Angeles den Kindern in Rijswijk Briefe schrieben oder Kleider und Nahrungsmittel schickten. Zu ihrer großen Freude folgten Amerikaner in anderen Städten ihrem Beispiel. „My life has never been richer and more beautiful than it is now“, sagte sie 1947 bei der Vernissage einer ihrer Ausstellungen.
Die Gemäldesammlung ihrer Freundin Galka Scheyer ging nach vielen Monaten des Abwartens und Klärens an das Pasadena Art Museum. Es ernannte Valeska zum „Archivist of the Galka E. Scheyer Collection“, weil zu der Sammlung eine umfangreiche Korrespondenz mit den Malern der Gruppe „Die Blaue Vier“ - Feininger, Jawlensky, Kandinsky und Klee - sowie anderen Zeitgenossen gehört. In jahrelanger Arbeit ordnete Valeska diese Briefe und versuchte, eine Biographie ihrer Freundin zu schreiben. Das Buch wurde meines Wissens nie gedruckt, ein Teil davon wurde mir aber zwecks wissenschaftlicher Auswertung zur Verfügung gestellt.
Valeska begann mit Siebzig, Plastiken aus Ton zu schaffen, sie sprach in vielen Vorträgen über expressionistische Malerei und trug den Grundsatz von Galka Scheyers Förderung malender Kinder weiter: „Be yourself and nobody else. Paint as you feel.“ Das Selbstbewusstsein der Kinder zu stützen, sei das Wichtigste, sagte sie. Was dabei zu Papier gebracht werde, sei eine „revelation of a human soul“, ganz egal, ob man es als Kunst bezeichne oder nicht.
Als Achtzigjährige schrieb sie, sie gehe nach wie vor von früh bis spät ihrer Arbeit nach, sei gesund und habe noch eine Menge Pläne – Zitat: „auch den, mein altes Braunschweig noch Mal wieder zu sehen, bevor ich die ganz große Reise antreten muss.“
Am 29. August 1973 wurde ihr, der 88jährigen, das „Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ verliehen. Valeska Heinemann wurde für ihre Pflege des deutschen Expressionismus und des Galka Scheyer-Nachlasses geehrt. Sie äußerte die Hoffnung, „dass ich vielleicht doch noch mal von meiner Heimatstadt eingeladen werde“. Ohne dass ihr dieser Wunsch erfüllt wurde, starb sie am 8. Januar 1985 in Los Angeles, einhundert Jahre alt. Aber wir ehren sie heute mit dieser Persönlichkeitstafel.
Valeska Heinemann war eine „höhere Tochter“, sitzenbleibende Schülerin, freche Blumendiebin, Klavierschülerin ohne Talent, sprachbegabte Sekretärin, liebende Mutter, sich trennende Gattin, erfolgreiche Fotografin, Unterstützerin holländischer Kriegskinder, passionierte Malerin, Hobbygärtnerin, Buchautorin, Bildhauerin, Großmutter, Kunstpädagogin, Archivarin und Trägerin des Verdienstordens erster Klasse.
Abschließen möchte ich meine kurze, blasse Darstellung dieses langen, farbenreichen Lebens mit einer erfreulichen Mitteilung: Die Nachkommen Valeskas, mit denen ich seit einigen Jahren in Kontakt stehe, haben das großformatige Bild „Unsere Synagoge“ der Jüdischen Gemeinde Braunschweig geschenkt. Es wird schon bald hier eintreffen!
Gilbert Holzgang
www.galka-scheyer.de (Öffnet in einem neuen Tab)