Minnesang und Kaiser Otto
Otto IV. wuchs zeitweise in England am Hofe seines Onkels Richard Löwenherz auf. Der Hof der Plantagenets zählte seinerzeit zu den kulturell bedeutendsten Höfen in Europa. Otto erfuhr dort eine ritterlich-höfische Erziehung und lernte die Kunst des Minnesangs kennen.
Der Minnesang ist eine wichtige Epoche der deutschen Literatur- und Musikgeschichte, die um 1150 mit dem Donauländischen Minnesang beginnt (bekanntestes Lied aus dieser Zeit ist „Ich zôch mir einen falken" des Kürenbergers) und im 15. Jahrhundert mit dem umfangreichen Werk des „letzten Minnesängers" Oswald von Wolkenstein endet.
Der mittelalterliche Minnesang thematisierte immer auch die Liebe und das damit verbundene Leid sowie auch die Freud. Der Sänger pries die Vorzüge einer unerreichbaren Dame, der er bereit war zu dienen, ohne Hoffnung, dass sie ihn je erhören würde. Die Zeitlosigkeit dieses Themas zeigt sich darin, dass unglücklich, aber auch glücklich Liebende einst wie heute sich darin wiederfinden.
Die Ursprünge des Minnesangs
Die Ursprünge des Minnesangs liegen im französischen Raum, wo die sogenannten Trobadors und Trouvères ihre meist unendlich traurigen Liebesklagen vortrugen. Als „erster Trobador" wird Wilhelm IX. von Aquitanien genannt, übrigens der Ur-Ur-Großvater von Otto IV., der damit ein direkter Abkömmling des „ersten Minnesängers" ist. Am Hofe von Richard Löwenherz, wo Otto aufwuchs, hat er diese höfische Tradition kennen und lieben gelernt. Laut dem bekannten französischen „Romans von der Rose", der im 13. Jh. entstand, soll Otto selber Minnelieder vorgetragen, evt. sogar gedichtet haben.
Die Lyrik
Was die Lyrik (übrigens auch die Epik) dieser Zeit am meisten von der unseren unterscheidet, ist, dass sie gesungen vorgetragen wurde. Wie genau das geklungen hat, kann man nicht mehr nachvollziehen, da von einem Großteil der Werke nur die Texte überliefert sind. Dort, wo es wirklich eine Überlieferung in Notenschrift gibt, fehlt die Rhythmisierung und jede Angabe zur musikalischen Gestaltung. Vor allem die Bilder aus der Manessischen Liederhandschrift, die im 14. Jahrhundert entstand und eine der wichtigsten Sammlungen von Minneliedern darstellt, legen jedoch nahe, dass ein begleiteter Vortrag mit Spielleuten auf Instrumenten wie kleine Harfen und Lauten, Drehleier und Sackpfeifen, Flöten und Schalmeien sowie diversen Rhythmusinstrumenten ebenso zur damaligen musikalischen Praxis gehörte wie der solistische Vortrag.
Minne und die nichterfüllte Liebe
Von den Trobadors, die bereits ab Mitte des 11. Jahrhunderts an den Höfen ihre Lieder vortrugen, übernahmen die deutschen Minnesänger ihre Inhalte, ihre Formen und zumindest in der Anfangszeit sogar die Melodien. Thematisch stand nicht die erfüllte Liebe an sich im Mittelpunkt, sondern das erfolglose, mühevolle Werben um eine Herrin, die das Begehren nicht erwiderte und selbst mit kleinen Zeichen der Zuneigung wie einem Lächeln oder einem Blick geizte. Aus diesem Leid des unerfüllten Begehrens gewannen die Minnelieder ihre Spannung.
Der Kreuzzug und die Minne
Zahlreiche Kontakte zwischen Angehörigen des deutschen und des romanischen Sprachraums entstanden während des zweiten Kreuzzugs in den vierziger Jahren des 12. Jahrhunderts. Das Ergebnis dieser Kontakte war eine kulturelle Befruchtung der deutschen Ritterdichtung: Französische Lieder wurden entweder übersetzt und nachgedichtet oder bestimmte "Töne", d.h. Strophenmelodien, wurden mit neuen Texten versehen. Auch Formen wie die "Alba" - in deutsch dann das "Tagelied" (s.u.) - und das "Kreuzfahrerlied" wurden übernommen. Seine erste Blüte erlebte der deutsche Minnesang am Hof Heinrichs II, Herzog von Österreich und Bayern. Dichter wie Der Kürenberger, Meinloh von Sevelingen und Dietmar von Eist entwickelten dort aus romanischen Vorbildern langsam einen eigenständigen deutschen Minnesang. Ende des 12. Jahrhunderts verbreitete sich der Minnesang auch auf viele andere Höfe. Der Anspruch und die Kunstfertigkeit stiegen, langsam bildete sich ein einheitliches Modell des Minneliedes heraus. Der rheinische Königs- und Kaiserhof der Staufer um Friedrich Barbarossa und Heinrich VI (selbst ein Dichter und Sänger) wurde das neue Zentrum. Hier entfalteten sich die ersten Meister der Gattung Friedrich von Hausen, Heinrich von Rugge, Hartmann von Aue, Albrecht von Johansdorf, die die die Lust am Leiden an der unerreichbaren Dame zu lyrischen Höchstleistungen antrieb.
Walther von der Vogelweide
Während sich in den Liedern der Troubadoure auch ein kokettes amouröses Spiel entwickelte, trieb man im deutschsprachigen Raum die Verzichtsethik, die auch Vorbild für gesellschaftliches Verhalten des ritterlichen Mannes allgemein sein sollte, bis in geradezu masochistische Höhen. Diese Tradition fand ihren Abschluss in der Kunst des großen Leidenden Reinmar von Hagenau, der am Babenberger Hof in Wien dichtete, und eine Zeit lang Lehrer Walthers von der Vogelweide war, mit dem er sich später eine literarische „Fehde" lieferte, bei der beide Dichter Teile aus Werken des Konkurrenten aufgriffen, böse kommentierten und ironisierten.
Walther von der Vogelweide stellte aber nicht nur die Verzichtsforderungen des Minnesangs in Frage, um mit dem Begriff der „ebenen Minne" den Weg in die erfüllte Liebe zu weisen, er wurde auch ein früher Meister des „Spruchgesangs", jener politisch-moralischen Lieddichtung, die sich parallel zum Minnesang entwickelte. Mit seinen Sangsprüchen nahm er Stellung zu vielen Zeitfragen und Tagesereignissen, wobei er aus den aktuellen Problemen manchmal zu lyrischen Aussagen von überzeitlicher Bedeutung gelangte, was vor allem seine großartige Reichsklage „Ich sâz uf eime steine" zeigt. Im Streit zwischen Staufern und Welfen um den deutschen Königsthron stand er lange treu auf Stauferseite. Nach Philipps Ermordung und Ottos Kaiserkrönung unterstützte er jedoch ein paar Jahre lang Otto, dem er seinen „Ottenton" widmete, der über die Meistersinger auch mit einer Melodie überliefert ist. Er begrüßte den Kaiser als Friedensbringer und forderte ihn auf, sich an die Spitze eines Kreuzzugs zu setzen. Er untestützte die Position Ottos bei seiner Auseinandersetzung mit dem Papst. Der Otto-Biograph Bernd Ulrich Hucker sieht Otto IV. Auch als Impulsgeber für einer Dichtung, die in Walthers Werk singulär bleibt: den Leich, ein 156 Verse umfassendes geistliches Gedicht. Gegen Ende von Ottos Herrschaft setzt sich Walther von ihm ab und unterstützt Friedrich II.
Wolfram von Eschenbach
Auch Wolfram von Eschenbach, der zwar auch großartige Minnelieder geschrieben hat, vor allem aber durch seine Epen „Parzival", „Willehalm" und „Titurel" in die Literaturgeschichte eingegangen ist, findet sich zeitweilig an Ottos Seite, auch bekannte Minnesänger wie Otto von Botenlauben und Bligger von Steinach werden mit Kaiser Otto IV. in Beziehung gebracht. Neidhart von Reuental, ein noch radikalerer Neuerer des Minnesangs, der die feinsinnigen Naturschilderungen und sehnsuchtsvollen Minneklagen seiner Eingangsstrophen regelmäüßig in drastische Rangeleien und Rivalitäten zwischen Rittern und Dorftölpeln münden ließ, hat in seinem Lied „Der widerslag" dem Kaiser ein weiteres literarisches Denkmal gesetzt. Dort lässt er den aufgrund seiner Aufdringlichkeit gegenüber den Damen böse geschmähten geschmähten Tölpel namens Durinhart aufteten, der dem Sänger Rache mit dem Schwerte schwört: „Wer mir einen Stelzfuß ans Bein wünscht, der möge sich vor meinem Zorn hüten - selbst Kaiser Otto könnte mir nicht den Widerschlag verbieten!"