Die Schunteraue bis zum Ausgang des Mittelalters
Daß das Schuntergebiet seit der Steinzeit und Eisenzeit zeitweilig immer mal besiedelt war, wissen wir aus Funden von Werkzeugen und Waffen. Eine Besiedlung ist auch für die spätere Zeit bis etwa 600 unserer Zeitrechnung zu vermuten, wie einige Funde in den Bienroder Dünen und im Querumer Bereich nahelegen. Schließlich müssen wir annehmen, daß es im Mittelalter ebenfalls auf dem Gebiet unseres jungen Stadtbezirks und besonders dort, wo heute die Schuntersiedlung liegt, sowie gegenüber auf der anderen Seite der Schunter schon kleine Ansiedlungen gegeben hat.
Die erste Erwähnung für viele Ortschaften unseres Gebietes findet sich in der Urkunde über die Weihe der Magnikirche in Braunschweig durch Bischof Branthag von Halberstadt im Jahre 1031.
Die berühmte Urkunde lautet im mittellateinischen Original:
In Nomine Sancte et individue trinitatis et sanctorum Johannis baptiste, Andree apostoli, Stephanie, Marie Magdalene, Brigide virginis, Margarete, Magni episcopi et martyris, Nicolai episcopi et confessoris Branthago Halverstidensis episcopus hoc templum dedicavit quod harum villarum, scilicet Brunesguik, Everikesbutli, Thuringesbutli, Ibanroth, Velittunun, Hanroth, Guinitthun, Riudun, Marquarderoth, Ottonroth, Glismoderoth, Huneshem, Fritherikeroth, Ruotnun, Morthorp, Reindageroth, Limbeki, Ekthi, speciali determinatione assignavit.
His predicits villis huic ecclesie mancipatis idem venerabilis episcopus sue episcopalis potestatis bannum imposuit, Liudolfo comite ejusque princibus quam plurimis asstantibus, ne quandoque filii nequam de semine Kanaan, si exurgerent, suis vel aliis ecclesiis que hujus sunt falso vendicarent. Hatheguardus et uxor ejus Atta, homines liberi Deo devoti, hanc ecclesiam pro se suisque omnibus construxerunt, cui duos mansus, Liudolfo comite consentiente, in dotem manciparunt nam eosdem mansus Hatheguardus ex parte Liudolfi predicti comitis in beneficium habuit. Comes vero Luidolfus rus proximum huic atrio pro remedio anime sue suorumque tarn posterorum quam modemorum parentum super altare in Brunesguik Deo optulit summo.
Datum anno domini millesimo tricesimo primo.
Das Original dieser Urkunde befindet sich im Stadtarchiv Braunschweig. Es ist ein beschädigtes, inzwischen restauriertes Pergament von 47 cm Breite und 29 cm Höhe, mit einem rückseitigen Siegel aus bräunlichem Wachs, auf dem ein Bischof dargestellt ist, und das die Umschrift trägt: „Branthago Halverstidensis“. Der lateinische Text ist im Urkundenbuch der Stadt Braunschweig in Band II auf den ersten beiden Seiten abgedruckt
Der Halberstädter Bischof war für alles Land östlich der Oker zuständig, der Hildesheimer Bischof für das westlich der Oker gelegene Land. Außer den vier hier überhaupt zum ersten Male erwähnten noch bestehenden Dörfern Wenden (Guinitthun), Rautheim (Ruotnun), Bienrode (Ibanroth) und Gliesmarode (Glismoderoth) wurden Veltheim-Veltenhof, womit allerdings noch nicht das spätere Kolonistendorf gemeint war, und Rühme bereits 1001 in der Königsurkunde Heinrichs Il. schon eher beurkundet.
Acht der genannten Ortschaften bestehen noch heute. Ekthi ist als Eichtal erhalten und war wahrscheinlich eine Richtstätte. Die übrigen aufgeführten Ortschaften sind bereits im Mittelalter wüst gefallen.
In der Annahme, daß die Reihenfolge der Nennung der Ortschaften einem geographischen Prinzip folgt, kann man versuchen, die Lage der Dörfer in der Landschaft zu rekonstruieren. Eine genaue geographische Lokalisierung läßt sich jedoch aus der Reihenfolge der Nennungen nur schwerlich ableiten. Vorausgesetzt, der Geistliche, der die Urkunde geschrieben hat, hat sich nicht geirrt und ist tatsächlich einem geographischen Prinzip gefolgt, so könnte man allerdings sagen: Everikesbutli und Thuringesbutli müssen zwischen der Altewiek (Brunesguik) und Bienrode gelegen haben, Hanroth zwischen Veltenhor und Wenden, Marquarderoth und Ottonroth westlich von Gliesmarode, die übrigen östlich von Braunschweig, nach Süden gehend, wobei Rautheim (Ruotnun) nur ein vager Anhaltspunkt sein kann.
Die für unser Gebiet bedeutsamen drei Orte Everikesbutli, Thuringesbutli und Marquarderoth teilte der Bischof von Halberstadt demnach der Magnikirche zu. Da sie sicherlich ohne eigene Kirchen waren, hatten ihre Bewohner zur Messe einen weiten Weg entweder bis zur Magnikirche oder später wohl nach Riddagshausen, wo 1145 durch Ludolf von Wenden oder Dalem, einem der Brunonenherzöge, das Zisterzienserkloster gestiftet worden war, dessen Mutterkloster Amelungsborn im Solling war.
Im 13. Jahrhundert kamen die Orte dann ganz zu Riddagshausen, wovon uns auf verschiedenen Karten seit 1754 überlieferte Flurbezeichnungen wie Riddagshäuser Klosterwiese und Mönchewiese künden. Diese Zuordnung hat dann wahrscheinlich das Ende der Ortschaften bedeutet.
Nach neuesten Erkenntnissen können wir uns Marquarderoth nordöstlich des Bullenteiches vorstellen, etwa auf dem Gebiet der heutigen Schuntersiedlung. Von diesem Dorf her haben wir bis ins 20. Jahrhundert noch die Flurbezeichnung Arkeroder Feld (oder Ärkeroder Feld), was ursprünglich Marquarderoder Feld geheißen haben dürfte.
Thuringesbutli, nach dem Vornamen „Thuring“ (nicht von „Thüringen“), taucht in der Gründungsurkunde von Sankt Magnus nicht zum ersten Male auf. Es ist schon 1007 in einem Diplom Kaiser Heinrichs Il. im Zusammenhang mit der Landzuweisung an das Stift Steterburg genannt. Auf einem älteren Dokument ist von einem Thuringroth die Rede (Ortschaften haben manchmal der Mode folgend die Namen geändert). Thuringesbutli könnte etwa östlich von Ölper und südlich von Rühme gelegen haben, und Everikesbutli vielleicht etwas näher an der Stadt auf dem Gebiet der heutigen Hamburger Straße.
Ortsnamen lassen sich deuten, obwohl man, wie neuere Erkenntnisse nahelegen, vorsichtig dabei sein soll. Versuchen wir dennoch einige Feststellungen: Der Bestandteil „-butli“ im Ortsnamen, der später zu „-büttel" wurde, weist - wie Kleinau meint - darauf hin, daß es eine Ortschaft mit einer Wassermühle gewesen sein muß.
Die Namen der ältesten Orte in unserer Gegend enden zumeist auf „-hausen“ oder „-heim“ bzw. Abwandlungen dieser Silben wie in Querum von „quimheim“. Diese Orte lagen ursprünglich direkt an Flüssen. Etwas später entstanden die „rode“-Orte, für die vom Flußtal entfernt erst Wald und Busch gerodet werden mußten. Deshalb wird auch Marquarderoth bei seiner Gründung eine Strecke von der Schunter entfernt gelegen haben. Die Flurbezeichnung „-camp“ oder „-kamp“ wurde in unserem Gebiet für urbar gemachtes Moor- und Heideland verwendet, das eingehegt wurde, damit die Tiere es nicht zertrampeln konnten.
Aufgrund der Überlieferung und der örtlichen Gegebenheiten kann angenommen werden, daß es sich bei den mittelalterlichen Mühlenanlagen der „butli“-Orte um einfache unterschlächtige Wassermühlen gehandelt hat, bei denen das Mühlrad von unten umspült wurde. Die abgebildete Querschnittszeichnung zeigt die vermutlich ähnliche Mühle von Rotemühle an der Oker nördlich des Mittellandkanals in einer Rekonstruktion.
Wahrscheinlich haben die erwähnten Ortschaften nur jeweils aus wenigen Gehöften bestanden. Eventuell waren sie auch Einzelhöfe, obwohl Sieberts Forschungen im Zusammenhang mit dem wüst gefallenen Harderode östlich von Querum und nördlich der Schunter gegenüber dem sogenannten Borwall, einer Burganlage, größere Ansiedlungen vermuten lassen.
Marquarderoth, Thuringesbutli und Everikesbutli sind spätestens im Laufe des 14. Jahrhunderts verlassen worden und wüst gefallen. Gründe für solche „Wüstungen“ können Epidemien - die Stadt Braunschweig wurde 1350 von der Pest heimgesucht - oder Erschöpfung des Bodens sein; für Marquarderode ist jedoch aufgrund der späteren Besitzverhältnisse wahrscheinlich, daß das Kloster Riddagshausen das Land der Bauern seinem landwirtschaftlichen Großbetrieb in Querum eingegliedert hat, und daß eine erneute Rodung von Neuland für die Bauern so wenig Nutzen versprach, daß man die Wohnstätten verlassen hat und unter den Schirm des Klosters umsiedelte. Für das erwähnte Harderode kann ein derartiger Vorgang in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts als sicher gelten.
Das Vorhandensein der drei Ortschaften irgendwo im Gebiet der Schunteraue braucht nicht nur auf die urkundliche Erwähnung gegründet zu werden, sondern wird erhärtet durch gelegentliche Funde von Scherben von Tongefäßen (z. B. auf den Wöhrden im Gebiet um Querum und um den Dowesee), die in die Zeit zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert datiert werden können. Es ist ein Ton mit einer blaugrauen, etwas sandigen Konsistenz.
Grabungen haben unseres Wissens nicht stattgefunden. Statt dessen wurde beim Bau der Schuntersiedlung reichlich Boden aus dem ausgebaggerten Veltenhöfer Hafenbecken dort aufgeschüttet, so daß man heute schon sehr tief graben müßte, um Spuren von Marquarderode zu finden. Falls man einmal ein Loch tiefer als fünf Meter ausheben muß, wäre das für die Heimatpflege und die heimatgeschichtliche Forschung von allergrößtem Interesse.